Fragen und Antworten zum Tarifeingriff durch den Bundesrat
Was ist eine Tarifstruktur?
Eine Tarifstruktur listet die Leistungen (Tarifpositionen) auf, welche durch die Versicherungen vergütet werden. Jede Leistung
wird bewertet in dem ihr einen gewisse Anzahl Taxpunkte zugeordnet werden. Zudem beschreibt die Tarifstruktur unter welchen Voraussetzungen eine Tarifposition angewendet werden kann.
Was ist ein Tarifeingriff?
Der umgangssprachliche Begriff «Tarifeingriff» beschreibt in Kurzfassung, dass der Bundesrat eine Tarifstruktur anpasst und
sie nicht, wie vom Gesetz eigentlich vorgesehen, von den Tarifpartnern ausgehandelt wird. Der Bundesrat beruft sich dabei auf
Art. 43 Abs. 5bis KVG, der ihm diese Kompetenz einräumt, wenn sich die Tarifstruktur als nicht mehr sachgerecht erweist und sich die Parteien nicht auf eine Revision einigen können. Ein Tarifeingriff wird in Form einer bundesrätlichen Verordnung vorgenommen.
Warum kommt es zum Tarifeingriff?
Der Bundesrat hat an seiner Sitzung vom 16. August 2023 entschieden, von seiner in Art. 43 Abs. 5bis KVG festgelegten Kompetenz Gebrauch zu machen: Er hat beschlossen, eine Tarifanpassung der Tarifstruktur für physiotherapeutische Leistungen vorzunehmen (s. oben). Das heisst, er schickt eine Änderung der «Verordnung über die Festlegung und die Anpassung von Tarifstrukturen in der Krankenversicherung» in die Vernehmlassung.
Wie steht Physioswiss dazu?
Physioswiss lehnt die Vorlage vollumfänglich und dezidiert ab.
Keine der vorgeschlagenen Anpassungen und Varianten sind für
die Physiotherapie zumutbar. Es ist unverständlich, die Vergütung einer seit Jahren unterfinanzierten Branche weiter zu kürzen. Die Vorlage zeugt von geringer Wertschätzung gegenüber
der Physiotherapie.
Physioswiss fordert den Bundesrat auf, dafür zu sorgen, dass
die Krankenversichererverbände ihre obstruktive Haltung überwinden endlich die Verhandlungen aufzunehmen.
Welche Folgen hat der Eingriff für die Physiotherapeut:innen?
Mit dem Eingriff wird die Branche in eine noch grössere Schieflage gebracht. Mit dem aktuellen Tarif kann ein:e Physiotherapeut:in rund 60 Franken Umsatz pro Stunde generieren, wenn mit den Eckwerten des geltenden Kostenmodells kalkuliert wird. Hinzu kommt, dass sich diese Situation durch die laufende Teuerung (Einkauf, Energiekosten, Miete, Löhne) verschärft. Durch den Eingriff wird diese Situation noch prekärer. Sie wird dazu führen, dass Praxen noch mehr auf Zusatzversicherte, Selbstzahler und in den Fitnessbereich ausweichen statt Patient:innen zu behandeln. Oder sie schliessen die Praxis gleich ganz und wechseln den Beruf. Damit spitzt sich der Fachkräftemangel weiter zu.
Welche Folgen hat der Eingriff für die Patient:innen?
Erstens droht eine physiotherapeutische Unterversorgung.
Die Folgen davon sind, dass
• nach Operationen die physiotherapeutische Nachbehandlung gefährdet ist.
• es vermehrt zu Wiedereintritten in Spitälern kommt
• die Rehabilitation nach Unfällen und Krankheiten verzögert und ungenügend erfolgt
• mehr Rehabilitationen stationär in Kliniken erfolgen müssen
• mehr Operationen durchgeführt werden (wie z.B. nach einem Kreuzbandriss)
• der Medikamentenverbrauch zunimmt
• es zu mehr Arztbesuchen kommt
• ältere Personen früher in ein Heim eintreten müssen, weil sie ihre Mobilität und Selbständigkeit nicht aufrecht erhalten können.
Zweitens sinkt die Qualität der physiotherapeutischen Versorgung. Wegen der akuten finanziellen Schieflage der Physiotherapiepraxen können sich Physiotherapeut:innen Fort- und Weiterbildungen immer weniger leisten. Zumal Spezialisierung und Fachtitel im ambulanten Bereich keinen Einfluss auf die Verdienstmöglichkeiten haben. Mit dem erneuten Eingriff wird die Motivation für Fort- und Weiterbildung weiter sinken. Weiter würde künftig die Tarifposition «aufwändige Behandlung» kaum mehr praktikabel, weil sie nicht mehr kostendeckend ist. In der Folge erhalten besonders vulnerable Patient:innen keine adquate Behandlung mehr.
Welches Ziel verfolgt das BAG mit dem Eingriff?
Der Bundesrat schreibt, dass das primäre Ziel sei, mit der Zeithinterlegung Transparenz zu schaffen und mit der Umformulierung der Tarifposition für «aufwändige» Physiotherapie Unklarheiten auszuräumen. Die vorgeschlagenen Anpassungen zielen jedoch ganz klar darauf ab, eine Kostendämpfung zu erreichen. Es wird versucht, bei der Physiotherapie ein Exempel zu statuieren, um zu zeigen, dass die Gesundheitsbehörde mit Hochdruck für tiefere Gesundheitskosten arbeitet.
Wie steht Physioswiss allgemein zur Transparenz?
Physioswiss spricht sich klar dafür aus, dass Transparenz bei der Behandlung gelten muss. Die Patient:innen stehen in der
Physiotherapie im Zentrum. Physiotherapeut:innen behandeln, betreuen und beraten alle Patientinnen und Patienten mit gleicher Sorgfalt und Transparenz. Sie treffen eine auf die Behandlungszielsetzung ausgerichtete optimale Therapiewahl und achten auf eine effektive, effiziente und kostenbewusste Behandlung. Sie stellen ein patienten- und therapiegerechtes
und hygienisches Behandlungsumfeld sicher und halten ein Qualitätsmanagement ein.
Wie sieht der Prozess einer Vernehmlassung aus?
Die Vernehmlassung dauert drei Monate und endet am 17. November 2023. In dieser Zeit können die Kantone, die in der Bundesversammlung vertretenen Parteien, die Dachverbände der Gemeinden, Städte und Berggebiete, die Dachverbände der
Wirtschaft sowie weitere interessierte Kreise wie Konsumentenverbände oder Organisationen aus dem Gesundheitswesen
Stellung zu den vorgelegten Änderungen nehmen. Kurz: Alle, auch Einzelpersonen, können sich zur Vorlage äussern.
Nach Ablauf der Vernehmlassungsfrist wird das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) die eingegangenen Stellungnahmen und die Reaktionen auf die vorgelegten Varianten auswerten, allfällige Änderungsvorschläge überprüfen und die Endfassung der Tarifstruktur sowie der Erläuterungen dazu beschliessen. Dieser Schritt kann mehrere Monate in Anspruch nehmen. Während dieser Zeit findet voraussichtlich keine Vor-Information seitens des Departementes statt, so dass die Feinumsetzung des Tarifeingriffes (Anpassungen IT-Systeme und Abläufe, Information und Schulung der Tarifpartner, Anwender und Patient:innen) erst nach dem Beschluss des Bundesrates möglich ist. Wir rechnen damit, dass die Verordnung im Verlauf des ersten Halbjahrs 2024 publiziert wird. Das Parlament hat bei einer Verordnungsänderung keinen direkten Einfluss auf den Entscheidungsprozess.
Wann soll die neue Tarifstruktur in Kraft treten?
Die neue Tarifstruktur soll per 1. Januar 2025 in Kraft treten.
Wo wird der Eingriff andernorts Kosten und Aufwände verursachen?
Der Tarifeingriff führt nebst direkten Folgen für die Patient:innen und für die physiotherapeutische Versorgung zu Auswirkungen auf weitere Bereiche:
• Es fallen Mehrkosten für das Gesundheitssystem an
• Es kommt zu einer Mehrbelastung der anderen Gesundheitsberufe
• Die Wirtschaft hat ebenfalls Mehrkosten zu tragen, weil die Leute länger arbeitsunfähig sein werden.
Was steht im Tarifeingriff des Bundesrats?
1. Die zwei Pauschaltarife, mit welchen über 90% der Behandlungen abgerechnet werden, sollen neu mit einer Zeit
hinterlegt werden (Tarifpositionen für «allgemeine Physiotherapie» und für «aufwändige Physiotherapie»).
2. Nebst den beiden erwähnten Pauschalen soll neu eine Tarifposition für eine Kurzsitzung von 15 Minuten Behandlung
und 5 Minuten Wechselzeit, Dossierführung, etc. eingeführt werden.
3. Die Tarifposition «aufwändige Physiotherapie» enthält eine Liste mit Krankheitsbildern und Situationen, welche die Behandlung erschweren. Deshalb hat diese Tarifposition eine höhere Abgeltung als eine «allgemeine» Physiotherapie.
Der Vorschlag des Bundesrats fordert, dass die Physiotherapeutin begründen muss, warum sie diese Tarifposition anwenden will.
4. Behandlungen von Lymphgefässerkrankungen sollen nicht mehr durch speziell dafür ausgebildete Physiotherapeutinnen und -therapeuten durchgeführt werden müssen.
Worauf basieren diese Vorschlägen?
Den Vorschlägen liegen keine Daten zugrunde. Der Bundesrat hat die Zeithinterlegung festgelegt, ohne die realen Sitzungsdauern der letzten Jahre zu kennen. Physioswiss liess diese Zahlen erheben und hätte sie gerne dem Bund präsentiert. Leider wollte man uns nicht anhören. Generell macht die Vorlage einen unsorgfältigen Eindruck. Ein Modell für Pauschaltarife, das fast 30jährig und damit völlig veraltet ist, dient als Grundlage für einen Systemwechsel hin zu einer Zeithinterlegung. Der Eingriff ist durch die steigenden Kosten begründet, wobei der Bundesrat selber schreibt, dass dafür nicht hauptsächlich die Tarifstruktur schuld sei. Dennoch will er nun diese anpassen. Dazu kommen Unstimmigkeiten bei Formulierung und bei den verwendeten Zahlen, sodass sich gesamthaft das Bild einer oberflächlich ausgearbeiteten Vorlage ergibt
Warum wehrt sich Physioswiss gegen einen Tarif mit Zeithinterlegung?
Weil die Zeithinterlegung auf keiner seriösen Grundlage basiert und das hinterlegte Kostenmodell nicht mit angepasst wurde.
Rund 90% aller Leistungen in der ambulanten Physiotherapie sollen nun neu mit einer (Mindest-) Zeitdauer hinterlegt werden.
Damit greift der Bundesrat in die Logik der Tarifstruktur ein, da der Vergütungsmechanismus weg von der Pauschale, hin zu einem Zeittarif wechselt. Er schlägt diese massive Änderung aber ohne jede Datengrundlage vor. Wenn ein Wechsel vollzogen
werden soll, muss das hinterlegte Kosten- und Leistungsmodell geändert und aktualisiert werden.
Warum wehrt sich Physioswiss gegen die Kurzsitzung?
Bei der Kurzsitzung sind 15 Minuten für die Behandlung vorgesehen. In einer 15min-Sitzung kann jedoch keine sinnvolle Behandlung durchgeführt werden. Eine durchschnittliche Sitzung dauert zurzeit gut 30 Minuten. Wird als Standardsitzung nun
eine 15min-Sitzung festgelegt, werden gut doppelt so viele Sitzungen benötigt, um den Therapieerfolg zu erreichen. Wahrscheinlich eher mehr, da die vielen Unterbrechungen aufgrund der sehr kurzen Therapiezeiten eine weniger effiziente Therapie erlauben. Das hat weiter zur Folge, dass Patient:innen schneller und öfter eine Folgeverordnung benötigen. Die ersten vier Verordnungen werden schneller und öfter aufgebraucht sein, ohne dass sich der Therapieerfolg einstellt. Folglich braucht es mehr Kostengutsprachen, welche durch den Arzt / die Ärztin gestellt werden müssen. Dieser unnötige administrative Mehraufwand bei den Ärzten / Ärztinnen führt zu Mehrkosten im Gesundheitssystem, die nicht akzeptabel sind.
Wir lehnen daher aus Qualitätsgründen diese fixe Behandlungsdauer von 15 Minuten ab.
Warum wehrt sich Physioswiss, dass die Tarifposition für aufwändige Physiotherapie begründet werden muss?
Gemäss dem Bundesrat ist die Tarifposition für aufwändige Physiotherapie unklar formuliert. Dies stimmt unserer Ansicht nicht. Die Formulierung «Diese Ziffer kann verrechnet werden bei Bestehen eines der folgenden Krankheitsbilder oder einer der folgenden Situationen, welche die Behandlung erschweren». (Es folgt eine Aufzählung) scheint uns klar. Die aufgeführten Krankheitsbilder und Situationen erschweren die Behandlung. Mit dem Wechsel zur Formulierung «….eines der folgenden Krankheitsbilder oder einer der folgenden Situationen und falls die Behandlung dadurch erschwert ist» führt dazu, dass jede komplexe physiotherapeutische Behandlung mit eindeutiger ärztlicher Diagnose neu gerechtfertigt und einzeln vom Krankenversicherer geprüft werden. Ein administrativer Moloch, der Ungleichbehandlungen durch die Krankenkassen fördert, je nachdem, bei wem die kranke Person versichert ist. Implizit verfolgt der Bundesrat damit das Ziel, dass Behandlungen von kleinen Kindern, Menschen mit Beeinträchtigungen, alten Menschen, multimorbiden oder neurologische Patienten und
Verbrennungsopfern gekürzt werden.
Warum sollen nicht alle Physiotherapeut:innen Lymphgefässstörungen behandeln dürfen?
Wird die Anforderung einer spezifischen Weiterbildung gestrichen, droht ein eklatanter, für die Patient:innen direkt spürbarer
Qualitätsverlust der Behandlung. Es handelt sich um ein sehr spezielles Krankheitsbild, für dessen Behandlung sich eine Physiotherapeut:in ein Spezialwissen aneignen muss, da sie ausserordentlich herausfordernd und aufwendig ist. Aus diesem Grund kann in der Bachelor-Ausbildung nicht genügend Zeit für das Erlernen der dazu nötigen Techniken aufgewendet werden. Es ist wichtig zu wissen, dass es hier nicht um Lymphödeme («Schwellungen») geht, die nach einem Unfall oder einer Operation auftreten. Diese sind normalerweise unproblematisch und können von jeder Physiotherapeutin kompetent behandelt werden. Hier geht es um angeborene oder z.B. wegen einer Krebserkrankung erworbenen Lymphgefässstörung.
Wie lautet das Fazit?
Die vorgeschlagenen Änderungen erfolgen nicht datenbasiert, wie der Bundesrat sogar selbst zugibt und sind damit willkürlich. Insgesamt legt dieser Verordnungsentwurf nahe, dass der Bundesrat der Auffassung ist, dass Physiotherapeut:innen als Player im Gesundheitssystem zu teuer sind und in Zukunft noch weniger Wertschätzung erhalten und sich bestenfalls sogar unbezahlt für ihre Patienten einsetzen sollen. Es wird ausserdem billigend eine Unterversorgung in Kauf genommen, sodass Patienten operiert oder medikamentös behandelt werden, anstatt in die Physiotherapie zu gehen.